„Es hätte auch nur eine kleine Erkältung sein können": Erfahrungen aus einer Corona-WG

Interview mit Arne Reichelt (24), Typ-1-Diabetes und COVID-19-Patient
© Arne Reichelt

Herr Reichelt, Sie sind im Alter von 19 Jahren an Diabetes Typ 1 erkrankt. Sie kennen Symptome von grippalen Infekten und wissen, wie sich diese auf Ihren Blutzuckerspiegel auswirken. Woran haben Sie gemerkt, dass es dieses Mal der Coronavirus sein könnte?

Ich war mit einer großen Gruppe vom 7. – 14.3. zum Skifahren in Sölden, Tirol. Dort lief noch ganz normal der Skibetrieb, obwohl langsam die Nachrichten aus Ischgl rüber schwappten. Die Symptome, die ich erstmals am 12.3. nachts verspürte, waren nicht anders als bei einem grippalen Infekt: schlecht geschlafen und am nächsten Tag extreme Gliederschmerzen,  Fieber und Schüttelfrost die nächsten zwei Tage. Ich hatte minimal Schnupfen und Husten. Samstag fuhren wir dann alle nach Hause nach Leipzig. Weil wir letztendlich im Risikogebiet Tirol waren, habe ich sicherheitshalber am Sonntagabend noch einen Test im Uniklinikum Leipzig machen lassen. Es hätte ja auch nur eine kleine Erkältung sein können. Aber nach dem Test war klar: COVID-19 positiv und sofort in Quarantäne. Von den anderen 12 Personen aus meiner Skigruppe waren 10 ebenfalls positiv…

Wie hat sich denn die Erkrankung auf Ihren Blutzuckerspiegel ausgewirkt, mussten Sie Therapieanpassungen vornehmen?

Mein Blutzucker ist extrem stark angestiegen, besonders nachts hatte ich mit 300 – 440 mg/dl massiv erhöhte Werte. Am Freitag stiegen meine Werte nochmals exorbitanter an, was ich so bislang noch nicht kannte. Das gab mir schon sehr zu denken, zum Glück hatte ich ausreichend Insulin dabei. 

Sie sind dann allein in Quarantäne gewesen in Leipzig. Das kann für Menschen mit Diabetes ein Risiko beinhalten, wenn Sie aufgrund einer Über- oder Unterzuckerung nicht mehr in der Lage sind, ihre Therapie anzupassen. Wie haben Sie das gelöst?

Da meine Freunde ja auch alle COVID-19 hatten, sind drei von ihnen die ersten Tage bei mir eingezogen, so dass ich keine Angst mehr haben musste, zu entgleisen und keiner wäre da. Also im wahrsten Sinne des Wortes hatten wir eine Corona-WG und keine virtuelle wie Pocher, Jauch und Gottschalk. Gesunde Freunde haben uns Lebensmittel ins Treppenhaus gestellt. An denen ich aber ab Montag gar keine Freude mehr hatte, weil mein Geruchs- und Geschmackssinn komplett weg waren. Als beides nach fünf Tagen zurückkam, war das für mich der Himmel auf Erden.

© Arne Reichelt

Wie vertreibt man sich so die Zeit in der Quarantäne?

Am Anfang mit den Freunden gemeinsam Kochen und Bewegungsübungen machen, nun stemme ich alleine Bierkästen und mache Stabilisationsübungen. Als ehemaliger Leistungssportler im Skilanglauf kenne ich genügend Übungen, um mich fit zu halten. Und ich genieße es, nun allein zu kochen, zu riechen und zu schmecken. Ich wusste nicht, was mir das an Lebensqualität bedeutet. Ich habe auch die Quarantäne genutzt, um meine BE-Schätzung zu überprüfen, abhängig von den Kohlenhydraten, die ich zu mir genommen habe. Davon hängt ja die Menge des Insulins ab. Dafür vermisse ich die frische Luft. Das, was mir am meisten fehlt, ist eine Runde draußen Joggen zu können.

Hat Sie das Gesundheitsamt eigentlich darauf hingewiesen, dass sich COVID-19 auf Ihren Diabetes auswirken kann?

Nein, das ist aber vielleicht auch zu viel verlangt, die Mitarbeiter der Gesundheitsämter können nicht die komplexen Details unserer Typ-1-Erkrankung kennen. Es wäre aber hilfreich, sie flächendeckend darüber zu informieren, dass der Zucker extrem in die Höhe schnellen kann. Mir wurde nur gesagt, ich solle den Virus so behandeln, als wenn ich eine Erkältung hätte.

Was wäre Ihnen noch wichtig, worauf andere Menschen mit Diabetes achten sollten, wenn sie mit dem Corona-Virus angesteckt sind und in Quarantäne müssen?

Sie sollten vorbereitet sein und alles in doppelter Menge (kalkuliert für einen Zeitraum von ca. 30 Tagen) vorrätig haben, um im Falle einer Entgleisung gegensteuern zu können. Auch ausreichend Sensoren sollten vorhanden sein und für Menschen mit einem Typ 1 Diabetes in jedem Fall ein Blutketonmessgerät und Blutketonmessstreifen. Ganz wichtig, wenn man selbst keine ebenfalls erkrankten Freunde oder Familienmitglieder hat, die kurzfristig einziehen können: Bei einem CGM (Kontinuierliches Glukosemesssystem) auf alle Fälle die Follower-App aktivieren und mit jemanden teilen, so dass man auch eine externe Person hat, die den Blutzucker mitkontrollieren kann. Dann könnte man auch beruhigter alleine in Quarantäne sein. Elementar ist in dieser Situation, dass man sich engmaschig mit seinem Diabetes-Team bzgl. seiner Therapieanpassung austauschen kann. Dafür ist es unerlässlich, seine CGM-Daten herunter zu laden und diese mit seinem Diabetes-Team zu teilen. So ist eine individuelle Therapieanpassung in solchen Extremsituationen, wenn die Werte nach oben explodieren, zusammen mit dem Diabetes-Team auch im Rahmen einer Quarantäne problemlos möglich. 

Lieber Herr Reichelt, wir danken Ihnen für das Gespräch und halten Sie noch bis Sonntag die Quarantäne weiter durch. Alles Gute für Sie!

Das Interview führte Nicole Mattig-Fabian, Geschäftsführerin von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. 

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