Essstörungen bei Typ-1-Diabetes

Essstörung
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Bei Menschen mit Diabetes treten Essstörungen deutlich häufiger auf als bei stoffwechselgesunden Menschen. Schätzungen gehen davon aus, dass bei jungen Frauen mit Typ-1-Diabetes etwa doppelt so oft Essstörungen vorliegen wie bei stoffwechselgesunden Frauen im gleichen Alter. Laut Studien sind zudem 7 % der Jugendlichen mit Diabetes von Essstörungen betroffen, während Jugendliche ohne Diabetes in 2,8 % der Fälle mit Essstörungen leben.

Warum ist das so? Menschen mit Typ-1-Diabetes müssen sich ständig Gedanken über Ernährung und Blutzuckerspiegel machen. Zudem können bei ihnen Hypoglykämien zu einem starken Verlangen nach Nahrung führen. Und schließlich kann eine Insulintherapie eine Gewichtszunahme mit sich bringen – mit der möglichen Folge einer Unzufriedenheit mit dem Körper oder auch einer Unterdosierung mit Insulin. 

Die häufigste Essstörung bei Menschen mit Diabetes ist die Bulimie, die Anorexie (Magersucht) hingegen tritt etwa so häufig auf wie bei stoffwechselgesunden Menschen. Auch bei Menschen mit Typ-2-Diabetes gibt es Essstörungen, sie sind vor allem von Binge-Eating betroffen. Allen Essstörungen liegen häufiger bei Frauen vor als bei Männern. Essstörungen verschlechtern den allgemeinen Gesundheitszustand der Betroffenen. Bei Menschen mit Diabetes erhöhen sie zudem das Risiko von Folgeerkrankungen an den Augen, der Niere oder den Nerven.


Folgende Essstörungen können auftreten: 

  • Bulimie (Bulimia nervosa, umgangssprachlich auch Ess-Brech-Sucht)

Menschen mit Bulimie haben Essattacken, bei denen sie große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit mit Kontrollverlust konsumieren. Laut Klassifikation finden diese Essanfälle mindestens einmal pro Woche über mindestens einen Monat lang statt. Anschließend versuchen die Betroffenen, der unkontrollierten Kalorienzufuhr entgegenzuwirken. Sie erbrechen, nutzen Abführmittel, Appetitzügler, Schilddrüsenpräparate, Diuretika (harntreibende Mittel) oder hungern zeitweilig. Die Verbindung aus Diabetes und Bulimie wird auch „Diabulimie“ genannt. 

Menschen mit Typ-1-Diabetes setzen zudem ein bewusstes Weglassen von Insulindosen (= Insulin-Purging) ein, um abzunehmen. Durch den dauerhaft erhöhten Blutzuckerspiegel steigt langfristig das Risiko für Folgeerkrankungen an Gefäßen und Nerven, kurzfristig erhöht sich das Risiko für Ketoazidosen. 

  • Magersucht (Anorexia nervosa)

Menschen mit Magersucht vermeiden kalorienreiches Essen. Sie erbrechen sich, nutzen Abführmittel, Appetitzügler, Diuretika oder sind übertrieben sportlich aktiv. Menschen mit Typ-1-Diabetes und Magersucht nutzen zudem ebenfalls Insulin-Purging zur Gewichtskontrolle. 

Bei Anorexie nervosa liegt das Körpergewicht der Betroffenen mindestens 15 % unter Normalgewicht für das jeweilige Alter, der BMI unter 18,5 kg/m 2 oder sie haben 20 % ihres Gewichts in sechs Monaten verloren. Bei Kindern und Jugendlichen kann sich eine Magersucht auch darin äußern, dass sie nicht altersüblich zunehmen.

  • Binge-Eating-Störung

Menschen mit Binge-Eating-Störung verlieren während des Essens die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme. Sie essen schneller als normal, sie essen große Mengen, ohne hungrig zu sein, und sie essen, bis sie sich unangenehm voll fühlen. Meistens essen Betroffene allein, da sie sich in Gesellschaft für die großen Mengen schämen. 

Die Essanfälle sind definiert als Konsum von großen Nahrungsmengen, die innerhalb von zwei Stunden bei einhergehendem Kontrollverlust zu sich genommen werden. Sie finden für eine diagnostizierte Binge-Eating-Störung mindestens einmal pro Woche während drei Monaten oder sehr häufig innerhalb eines Monats statt. Eine Kompensation der unkontrollierten Kalorienzufuhr findet nicht statt. 

Ursachen und Risikofaktoren für Essstörungen und Einfluss des Diabetes 

Eine Essstörung ist eine psychische Erkrankung, bei der mehrere Faktoren zusammenkommen: Eine Familienhistorie mit Essstörungen jeder Art, Depressionen, Substanzmissbrauch, insbesondere Alkohol, sowie Übergewicht stellt einen Risikofaktor dar. Aber auch das schlanke Schönheitsideal, gesellschaftliche Erwartungen sowie ein negativer Selbstwert, Perfektionismus und Angststörungen können eine Rolle spielen. 

Mit Beginn der Insulintherapie nehmen viele Menschen mit Typ-1-Diabetes an Gewicht zu. In der Pubertät sind daher insbesondere Mädchen mit Typ-1-Diabetes durchschnittlich schwerer als stoffwechselgesunde Altersgenossinnen. Das kann zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen. Die ständige Auseinandersetzung mit den Themen Nahrungsmittel, Gewichtsregulation und körperlicher Aktivität aufgrund der Diabetestherapie kann ebenfalls mitverantwortlich für die Entwicklung einer Essstörung sein. 

Folgen von Essstörungen und Diabetes

Menschen mit Essstörungen und Diabetes haben häufig höhere Langzeit-Blutzucker-Werte (HbA1c) als Menschen mit Diabetes ohne Essstörungen. Insulin-Purging erhöht zudem das Risiko für eine Ketoazidose sowie für schwere Unterzuckerungen. Durch das Zusammenspiel von Essstörungen und Diabetes kann es auch deutlich früher zu Folgeerkrankungen vor allem an Augen, Nieren oder Nerven kommen. 

Häufig übersehen Ärzt*innen und Angehörige des gestörte Essverhalten, auch weil vor allem Menschen mit Typ-1-Diabetes nicht unbedingt die klassischen Symptome einer Essstörung zeigen. Wichtig ist daher, auf Warnzeichen zu achten, die Insulin-Purging und andere Essstörungen hinweisen können. Dazu gehören stark schwankende Blutzuckerwerte oder wiederholte Ketoazidosen, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper oder Versuche, z.B. durch Nutzung von mehreren Blutzuckermessgeräten die Essstörung zu verschleiern. 

Therapie

Wenn bei Menschen mit Diabetes eine Essstörung auftritt, sollten sich die Betroffenen Hilfe suchen. Eltern von betroffenen Kindern können hierbei ebenso unterstützen wie das Diabetes-Team. Wichtig ist, Vorwürfe zu vermeiden und stattdessen herauszufinden, welche tieferliegende Funktion das Essverhalten für die Betroffenen hat. 

Eine Psychotherapie, ambulant, teilstationär oder stationär, kann als notwendige Grundlage helfen, die Essstörung zu überwinden. Reine Schulungs- und Selbsthilfe-Programme allein reichen hingegen oft nicht aus. Wenn möglich, sollten sich die Therapeut*innen mit Diabetes auskennen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) führt dazu eine Liste mit Psychotherapeut*innen, die sich auf die Fachrichtung Diabetologie spezialisiert haben. 

Auch eine allgemeine Informationsvermittlung, die Ernährungs-Rehabilitation, die Behandlung von komorbiden Zuständen, die Bearbeitung von essstörungsspezifischen kognitiven (Wahrnehmungs-)Störungen sowie von zugrundeliegenden Problemen sind mögliche Ansätze.

 

Quellen:

Kulzer, B et al. Psychosoziales und Diabetes. Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Aktualisierte Version 2023. Diabetologie und Stoffwechsel [Zuletzt abgerufen 22.03.2024]
Skoda E et al. Komorbidität von Essstörungen. Diabetologie 2015; 10: R13-R24.
Petrak F, Herpertz S. Handbuch Psychodiabetologie, Springer Verlag 2013. 
Apotheken-Umschau: Essstörungen bei Diabetes. https://www.apotheken-umschau.de/krankheiten-symptome/diabetes/folgeerkrankungen/essstoerungen-bei-diabetes-817509.html [zuletzt zugegriffen 22.03.2024]
DDG-Kongress Mai 2024 (Vortrag von Isabelle Mack (Tübingen): „Gefährliches Duo: Essstörung und Diabetes bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes“)