Alt werden mit Typ-1-Diabetes

Die Lebenserwartung liegt hierzulande laut Statistischem Bundesamt mit Blick auf die Ergebnisse der aktuellen Sterbetafel 2020/2022 bei 78,3 Jahren für Männer und 83,2 Jahren für Frauen. Die Zahl hat sich demnach in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt. Auch Menschen mit chronischen Krankheiten wie Typ-1-Diabetes werden glücklicherweise älter – nicht zuletzt aufgrund medizinischer und technologischer Weiterentwicklungen. Doch das bedeutet auch neue Herausforderungen, denen die Altersmedizin („Geriatrie“) begegnet.
„Wer bereits mit Typ-1-Diabetes alt geworden ist, hat heutzutage gute Chancen, sich der normalen Lebenserwartung anzunähern“, konkretisiert PD Dr. Andrej Zeyfang, Chefarzt für Innere Medizin, Altersmedizin, Diabetologie und Palliativmedizin bei den Medius Kliniken Ostfildern-Ruit. „Über-80-Jährige mit Typ-1-Diabetes haben sogar eine Untersterblichkeit im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes.“ Das könne an gesundheitsbewussterem Verhalten und besserer medizinischer Kontrolle liegen.
Ab wann gilt ein Mensch eigentlich als „geriatrisch“? „Das chronologische Alter ist keine Krankheit“, gibt Zeyfang zu bedenken, der seit 2002 Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Geriatrie & Pflege der DDG und seit 2007 Leiter der Arbeitsgruppe Diabetes bei der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie ist. „Rein formal wird aber häufig ein Alter ab 70 mit zusätzlicher Multimorbidität und geriatrischen Funktionsstörungen als Grenze für geriatrische Patient*innen gezogen.“
Körperliche und kognitive Einschränkungen
Die einhergehenden Krankheiten sind häufig chronische Krankheiten, vor allem aber Funktionsstörungen wie Immobilität, Instabilität und intellektueller Abbau. Besonders der Verlust der Autonomie ist ein Problem: Wer sich sein Leben lang selbst um seinen Typ-1-Diabetes gekümmert hat, hat natürlich Angst, wenn nicht mehr alles wie gewohnt funktioniert: Muss ich die Kontrolle abgeben, wer wird sich kümmern, was wird aus mir?
Neben diesen Ängsten spielen mikrovaskuläre Folgeschäden aufgrund von langer Diabetesdauer eine Rolle im Alter – vor allem an Niere und Augen mit einhergehendem Verlust der Sehkraft. „Die Situation ist besser als noch vor 20 Jahren, aber was in früheren Lebensjahren nicht gut lief, kann man später oft nicht mehr gutmachen“, so Zeyfang. Auch ein Verlust der Sensorik bei Polyneuropathie kann problematisch sein.
Zudem drohen kognitive Einschränkungen. „Schwankende Blutzuckerwerte können sich negativ auf die Kognition auswirken. Bei Typ-1-Diabetes ist daher auch Demenz häufiger vertreten. Bei Typ-2-Diabetes ist das Risiko sogar doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Diabetes“, so Zeyfang. Zudem bestehe eine negative Wechselwirkung: Demenz oder kognitive Einschränkungen machen die Blutzuckertherapie schwankender – Blutzuckerschwankungen schränken auf Dauer die Kognition ein.
Daneben können Menschen mit Typ-1-Diabetes natürlich auch alle anderen alterstypischen Krankheiten bekommen, darunter etwa zusätzlich zum Typ-1- auch einen Typ-2-Diabetes (und damit einen sogenannten „Double Diabetes“. Allerdings: „Die bei Menschen mit Typ-2-Diabetes oft auftretenden, vielfältigen Gefäßfolgen aufgrund des metabolischen Syndroms sieht man bei Typ-1-Diabetes im Alter seltener.“
Individuelle Therapieziele statt HbA1c-Vorgaben
Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes wird im Alter nicht mehr so stark auf die normnahe Blutzuckereinstellung und harte Therapieziele wie den HbA1c-Wert fokussiert. „Das hat nichts mit einer fatalistischen Einstellung zu tun als vielmehr mit Sicherheit: Mit langdauerndem Typ-1-Diabetes lässt schon ab dem mittleren Alter die Hypoglykämie-Wahrnehmung nach, bei zunehmenden Lebensalter werden zudem generell Alarmzeichen des Körpers signifikant weniger“, berichtet Zeyfang.
Folglich stehen statt starrer Leitlinien in der Altersmedizin individualisierte, patientenzentrierte Ziele im Vordergrund – wie etwa höhere Blutzuckerwerte in der Nacht. Zudem ist laut Zeyfang bei Einschränkungen oft ein Vereinfachung der Therapie der richtige Weg. Einige seien erleichtert über die geringere Komplexität, andere leiden darunter, weil sie die Unterschiede zwischen intensivierter und Pumpentherapie sowie zwischen Langzeit- und Mischinsulin von früher noch kennen. Der Patientenwunsch gehe immer vor. „Verbote sind ein Tabu in der Altersmedizin“, so Zeyfang.
Dafür braucht es auch ausreichend und informiertes Fachpersonal im ambulanten und stationären Bereich, wobei laut Zeyfang oft schon eine Erklärung des Unterschieds zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes nötig sei. Zudem müsse man die Pflegenden stärken. In diesem Zusammenhang weist er auf das Zertifikat „Klinik mit Diabetes im Blick DDG“ oder die strukturierte Fortbildung „Diabetes-Pflegefachkraft DDG (Langzeit)“ hin.
Angehörigen empfiehlt Zeyfang, Auffälligkeiten offen zu besprechen und mögliche Gefahren zu thematisieren. „Warnzeichen sind etwa, wenn Insulininjektionen vergessen oder doppelt durchgeführt werden“, so Zeyfang. Neben Demenz-Testverfahren gibt es ein geriatrisches Assessment zur Funktionsüberprüfung. Zudem hat Zeyfang vor rund 20 Jahren den „Geldzähltest“ als Verfahren zur Einschätzung evaluiert, ob eine selbstständige Insulinabgabe noch sicher funktioniert.
Großes Potenzial durch Technologie
Glukose-Sensoren sind ein wertvolles Hilfsmittel und eine Erleichterung für ältere Menschen mit Typ-1-Diabetes, auch wenn Zeyfang beobachtet, dass die Heranführung an die Technik in der aktuell älteren Generation manchmal noch schwierig ist. Für Pflegende und Angehörige bieten die Sensoren jedoch eine Erleichterung und Sicherheit. Wobei: „Ein damals über 90-Jähriger mit Typ-1-Diabetes war bei Markteinführung des ersten FGM-Sensors mein erster Patient mit dem System“, erinnert er sich. AID-Systeme sieht er aktuell nur vereinzelt bei seinen geriatrischen Patient*innen mit Typ-1-Diabetes, aber Zeyfang denkt schon weiter: „Ich glaube, dass in wenigen Jahren eine häusliche Unterstützung in Form von Robotik und KI möglich sein wird.“
Seine praktischen Erfahrungen bestätigen: Typ-1-Diabetes und Alter – das kann sehr gut gehen. Seine älteste Patientin mit Typ-1-Diabetes ist eine 96 Jahre alte Frau: „Bis zu ihrem 92. Lebensjahr hat sie zuhause selbstständig eine intensivierte Insulintherapie durchgeführt. Aufgrund von Seheinschränkungen stieg sie auf Mischinsulin um – das hat gut geklappt, sie ist bis heute fit.“
Text: Susanne Löw