Meret (9) – die Empfindsame

Meret (9) – die Empfindsame
© Privat
Meret

Das blaue Akkordeon blitzt mit Merets blauen Augen um die Wette. Sechs Instrumente hat sie im Musikzirkel durchprobiert und sich sofort entschieden: das Akkordeon sollte es sein. Nun übt sie mehrmals die Woche  „Banana Boat“. Harry Belafonte wäre stolz über dieses lebensfrohe Kind. Auch die Tasche, in der Merets Insulinpumpe steckt, ist blau. Sie trägt sie selbstbewusst über ihrem neuen Glitzershirt. Wenn sie in der Schule mal bäuchlings auf die Pumpe fällt, sind die Jungs in ihrer Klasse ganz gentlemenlike und helfen ihr schnell wieder auf die Beine.  Für die Klassenkameraden gehört Merets Erkrankung zum Alltag.  Nur manchmal, wenn Meret bolen* und sich beim Errechnen der Insulinmenge konzentrieren muss, fühlt sie sich vom Toben und Schreien der anderen Kinder gestört und zieht sich dann kurz in das Lehrerzimmer zurück. Äußere Einflüsse und Emotionen schlagen sich bei Meret ganz schnell auf ihren Blutzucker nieder. Das war schon immer so und vielleicht war die bevorstehende Einschulung sogar der Auslöser, als man bei Meret im Alter von 6 Diabetes Typ 1 diagnostizierte. Es folgten 10 Tage Krankenhaus zur Einstellung, seitdem wiegt Meret täglich zusammen mit den Eltern ihr Essen und berechnet ihren Insulinbedarf. Anfangs hatte sie einen Insulinpen, aber den tauschte sie sofort gegen eine Insulinpumpe, als sie bei einer Schulungskurs die vielen anderen Kinder beobachtete, die scheinbar mühelos mit ihrer Pumpe umgingen. Meret weiß nämlich genau, was sie will. Wenn es nach ihr ginge, hätten die Wissenschaftler auch schon längst eine Pumpe hergestellt, die automatisch oder per Sprachcomputer funktioniert.  So aber muss sie weiter mit ihrem recht unregelmäßigen Blutzucker tagtäglich leben. Und das ohne Unterstützung in der Schule, denn Meret lebt in Brandenburg, wo keine Schulhelfer an den Schulen zur Verfügung stehen. So gibt es ein stilles Abkommen mit ihren Eltern: wenn der Blutzucker unter 70 oder über 150 ist, soll sie die Eltern anrufen, zurzeit ist das täglich. Zum Glück hat Meret ein gutes Körpergefühl, sie wird sogar nachts wach, wenn ihre Werte unter 60 sinken.  Das ist neulich passiert, als sie bei einer Freundin übernachtet hat. Da hat sie ihre Mama um Mitternacht  angerufen, nach einer Portion Traubenzucker ging es wieder zurück ins Bett. Meret ist sofort wieder eingeschlafen, ihre Mama zu Hause nicht. Die kann nur richtig loslassen, wenn sie mit einer Freundin alleine eine Woche auf einem Kreuzfahrtschiff ist. Unerreichbar auf einem Banana Boat. Dann regelt der Papa das Leben von Meret und ihrer ein Jahr älteren Schwester Hannah. Mit ihr spielt Meret am liebsten. Beim Quartett hat Meret allerdings einen Sonderwunsch: einmal den Diabetes tauschen.

*Mit „bolen“ bezeichnet man den Vorgang, Bolus-Insulin (Kurzzeit-Inuslin) vor jeder Mahlzeit zu spritzen.

(NMF; Februar 2010)