Ümit Sahin (36) – regiert vom Übergewicht

Ümit Sahin

2017 wird das Jahr der einschneidenden Veränderungen in Ümits Leben. Er übernimmt das Geschäft seines Vaters, der in Rente geht: einen Fachhandel für Haushaltswaren. Er dient seiner Familie. Von nun an steht er wochentags um 5.00 Uhr auf und kommt nicht vor 20.00 Uhr heim. Neu ist, dass er seitdem auch einen ständigen Begleiter hat, ohne dass man ihn sieht: Diabetes Typ 2 diagnostiziert der Hausarzt dem gerade 33-jährigen im selben Monat. Ümit war proaktiv zum Arzt gegangen, nachdem die Symptome eindeutig waren: Bis zu 8 Liter Wasser trank er am Tag, hatte ständig einen trockenen Mund und nahm Gewicht ab. Der Arzt stellt einen Blutzuckerspiegel von 500 mg/dlund einen Langzeitblutzuckerwert (HbA1c) von 16 fest. Höchste Zeit zu handeln.

Dabei hätte Ümit es besser wissen müssen, immer wieder hatte der Arzt ihn gewarnt, er müsse unbedingt seinen Lebensstil ändern, da er familiär vorbelastet sei: Großeltern, Tante, Onkel, alle hatten sie Diabetes Typ 2. Aber Ümit ignorierte die Vorzeichen – und sein Übergewicht. 140 kg bringt er als Höchstgewicht auf die Waage. Bewusst wird es ihm nur, wenn er Treppen steigen oder Kleidung kaufen muss, ansonsten wird das Thema Gewicht ausgeblendet. Keiner sagt etwas. Nicht die Familie, nicht der Freundeskreis. Leichte, freundlich gemeinte Stupser überhört er, seinem Gewicht gegenüber fühlt sich Ümit machtlos. Es hat längst die Regentschaft über sein Leben übernommen.

Das Thema Ernährung spielt die Hauptrolle in Ümits Leben. Denn er kocht gerne – nur das Falsche: 99 % Fertigprodukte, große Portionen, alles wird viel zu schnell gegessen. Hinzu kommt wenig Bewegung, alle Wege legt er mit dem Auto zurück. Als er die 140 kg Marke sieht, weiß er, dass er dringend die Reißleine ziehen muss, um sich selbst zu retten. Er hat plötzlich Angst, nicht mehr in die Öffentlichkeit gehen oder seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Dann hätte sein Übergewicht den Kampf um sein Leben gewonnen.

Doch was heißt das, die Reißleine zu ziehen und das Leben um 180 Grad zu wenden? Womit sollte er beginnen? Vom Arzt wird ihm keine Ernährungsberatung angeboten, er fängt selbst an zu recherchieren, findet aber keine Beratung, die auf Typ 2 zugeschnitten ist und ihm praktische Fragen beantwortet, wie sich welche Nahrung auf den Blutzuckerspiegel auswirkt. Er lernt in kleinen Schritten: Wie groß muss eine Portion sein, wie fühlt sich ein wahres Hungergefühl an? Ümit stellt seine Art zu kochen um. Er lässt sich Zeit, ist sparsam mit Fett und Gewürzen, die er für sich als appetitanregend identifiziert. Außer Haus isst er nicht mehr, es wäre eine zu große Herausforderung. So kämpft er sich 1 ½ Jahre runter auf 110 kg und einen HbA1c von 5,5. Sein Arzt setzt die Medikamente ab. Geschafft!

Aber wer jemals übergewichtig war, weiß, dass Ümit den Kampf ums Gewicht noch lange nicht gewonnen hat. Mit wachsendem Stress im Geschäft, dem finanziellen und familiären Druck, dem er ausgesetzt ist, kommen die Kilos zurück: alte Gewohnheiten brechen wieder auf, schleichend übernehmen sie Besitz von Ümits Körper, heute gönnt er sich eine Cola, morgen ein paar Süßigkeiten, auch Fertigprodukte sind nicht mehr tabu. Sein Umfeld nimmt keinerleit Rücksicht: Kohlenhydrate hier, Deftiges da, keiner realisiert so wirklich, dass Ümit eine chronische Krankheit hat, die sein Leben verkürzen kann. Man sieht es ihm ja nicht an. Das Gewicht pendelt sich bei 125 kg ein.

Doch Ümit ist ein Kämpfer. Er will die Regentschaft über seinen Körper zurück, 2020 soll sein Jahr werden. Er hat die Ernährung wieder besser im Griff und versucht die Alltagsbewegung zu erhöhen, indem er Treppe statt Fahrstuhl nimmt, 2 Haltestationen früher aus den Öffentlichen Verkehrsmitteln aussteigt und überhaupt viel geht. Neuerdings hat er mit CrossFit begonnen, ausgerechnet einer Sportart, die für Übergewichtige nicht unbedingt zu empfehlen ist. Aber der Trainer und die anderen Gruppenteilnehmer motivieren ihn, die Übungen zu einem Drittel durchzuhalten. Irgenwann will er sie ganz schaffen. Sein Ziel ist, unter die 100 kg kommen, langsam und mit Zwischensteps, und wenn er es geschafft hat, will er andere übergewichtige Typ 2er motivieren, ihm es nachzutun. Ümit hat gelernt, seine Selbstwahrnehmung ins Positive zu wandeln.  Er dient nun sich selbst.